Eine Reise nach Russland

 

 

Vorbereitungen

 

Nach Rußland- Als sich vor etwa 5 Wochen Wolfgang telefonisch meldete und anfragte: "Peter, hast Du Lust, an einem Kunstfluglehrgang auf der Krim teilzunehmen" stellte sich sofort ein merkwürdiges Kribbeln ein, mit dem ich stets das Unerwartete freudig begrüße. Peter's zögerliche Zurückhaltung zunächst schwand völlig angesichts meiner begeisterten Ausbrüche. Keine Frage: Peter fährt - mit Andrea.

Mit der Zusage und damit der Aussicht, 2 Wochen in Rußland zu verbringen, stürzte eine Fülle verschwommener Bilder und Erwartungen auf mich ein. Die Flut dieser Assoziationen war ein undurchsichtiges Gewabber aus "Mütterchen Rußland", "Dr. Schiwago", "Tolstoi". Allein das Wort "Rubelchen" brachte mich in eine Stimmung, mit der ich nur mit Mühe meinen heftigen Drang, klatschend auf einem Tisch herumzutanzen, widerstehen konnte.

Dieses Gefühlskonglomerat galt es nun zu ordnen, Wissen sich anzueignen, Literatur sich zu besorgen. Denn nach diesen emotionalen Eruptionen stellte sich Ernüchterung ein. Was weißt Du wirklich über die Sowjetunion, außer dieser Literaturwelt und den Filmklisches? Allein die Namensumwandung Rußland - Sowjetunion durchschnitt meine romantischen Anwandlungen. Ver- und beschämt gestand ich mir meine Vorurteile ein. Eine durch Lenin und Stalin veränderte russische Welt paßte so gar nicht zu meinem Herzensbild. Auch Gorbatschows Wirken - politisch und distanziert bisher mit Verstand beurteilt- konnte meiner Seele nicht wohltun. Mein Verstand sagte mir, daß das Rußland meiner Träume, wenn nicht gänzlich gestorben, so doch durch allerlei gesellschaftspolitische Utopien verschüttet sein würde. Die Angst vor zu großen Enttäuschungen ließ mich innerlich zittern. Ich verbot meinem Herzen allzu große Lustsprünge und erstand stattdessen: Reiseführer, Landkarte und ein Russisches-Sprachbuch. Mit diesen sachlichen Dingen band ich mein Herz und beschäftigte meinen Verstand. Dieser mühte sich redlich ab, in einem Schnellkursus Wissenswertes über Rußland aufzunehmen. So fütterte ich ihn mit touristischen Informationen wie Jalta ,Botanischer Garten in Nikitskij, Leninkai, Mischor, Bachtschirassai, Tretjakow-Galerie, Basiliuskathedrale, Historisches Museum, Arbat, und vieles andere. Doch auch einen Exkurs in die russische Geschichte verordnete ich ihm. Iwan III begründet um 15oo das Großreich. Iwan der IV wird der erste Zar Rußlands. Um  1715 beginnt Peter I mit seinen Reformen und der Orientierung nach dem Westlichen Europa. Die Oktoberrevolution von 1917 bereitete diesem russischen Zarenreich ein blutiges und unvermitteltes Ende. Zur erholsamen Lektüre natürlich Krieg und Frieden von Tolstoi. Ein empfohlenes Buch von Bulgakow "Meister und Margarethe" wollte ich noch besorgen, schaffte dies aber nicht mehr. Meine zeitliche wie auch geistige Kapazitätsgrenze war erreicht. Lernte ich doch nebenbei kyrillisch und ein paar russische Wörter. Mein Sprachbuch erwies sich als absolut idiotisch, ich lernte in den ersten drei oder vier Lektionen zwar was Tafel, Federkasten und Sofa heißt. Doch bezweifele ich den touristischen Nutzen diese Wortschatzes

 

 

Moskau, Teil 1

 

Am Freitag, ca. 16.30 Ankunft in Moskau. Die Fahrt vom Flughafen zum Hotel in die Innenstadt vermittelt bereits erste Eindrücke. Neugierig sucht man bei der Fahrt in die sowjetische Hauptstadt nach Fremdländischem. Bilder vom Roten Platz, Kreml, Basiliuskathedrale, Zwiebeltürmchen im Kopf hatte man sich auf eine andere Kultur eingestellt. Erstaunt registriert man nun Bekanntes. Der Gürtel Hochhäuser um die Stadt gleicht den Beton- und Steinfassaden unserer Städte - nur grauer. Breite Straßen führen schnurgerade, teils mit Bäumen gesäumt, ins Zentrum - nur mit weniger Verkehr. Die Architektur der Häuser erscheint nicht unvertraut -  nur ungewohnt altmodisch. Historische Gebäude scheinen zu fehlen, allenthalben nimmt man nur Zweckbauten der modernen Sowjetunion auf. Dazwischen erheben sich Monumentalbauten, die meist Hotels sind oder größere Institutionen beherbergen. Denkmäler sollen fast ausschließlich an Personen oder Ereig­nisse des 20. Jahrhunderts erinnern. So präsentiert sich die Hauptstadt gegenwartsbezogen, wobei diese Modernität mit unseren Augen betrachtet eher dem Standard der 50er Jahre entspricht. Russische Kunst früherer Jahrhunderte tritt in den Hintergrund. Nur eingestreut zwischen den Funktionalbauten entdeckt man sie.

Ist dies alles ein Ausdruck des Stolzes, mit dem dieses System mit der Revolution einen Neubeginn gestartet hat und einen gewaltigen Anschluß an den technischen Fortschritt des 20. Jahrhunderts vollzog? 

Selten vermittelt der äußere Eindruck ein so falsches Bild. Die Augen registrieren Normalität, doch erst im Gespräch mit unserer Reisebegleitung wird plötzlich die Fremdheit eines anderen Landes spürbar. Um bestimmte Gebäude sind unsichtbare Mauern gezogen. Bestimmte Hotels und Restaurants sowie Berjoskaläden sind für Russen zu Tabuzonen erklärt. Die Konfrontation mit dekadenten, in Luxus schwelgenden, kapitalistisch verseuchten Touristen soll dem biederen, geraden, Kommunistischem Volk erspart bleiben. Unsere russische Reiseführerin Larissa wird - obwohl in Begleitung einer Deutschen - vom Portier des "Cosmos" zurückgewiesen. Russen dürfen ja kein Intourist-Hotel betreten. Eine unmittelbar erlebte Peinlichkeit, die Larissa mit Schamgefühl hinnimmt. Keine Wut, schon gar nicht auf uns, die Touristen - sondern auf den russischen Portier. Ihr Widerwille gegen das System ist fühlbar, doch er macht sie nicht aggressiv, sondern eher resigniert. Ein Zusammenrotten der Moskauer und ein Stürmen von Intourist-Hotels und Berjoskaläden? Anja, unsere zweite Reisebegleiterin hält dies für undenkbar. Sie glaubt, die Russen sind zu phlegmatisch, sie lernen mit den Widrigkeiten zu leben. Menschen, deren Energie gebraucht wird, um Lebensnotwendiges für den Alltag heranzuschaffen, bäumen sich nicht auf. Sie erschöpfen sich bereits im täglichen Kampf um Kleinigkeiten.

Lebensmittel und andere lebenswichtige Dinge des Alltags sind zwar vorhanden. Doch sie sind nur auf undurchsichtigen Wegen über Freunde, Beziehungen, mit horrenden Preisen oder gegen Valuta zu erwerben. Einige Preisbeispiele sollen die Situation verdeutlichen:

Bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 200 Rubel kosten

1 kg Äpfel 20 Rbl

1 kg Zucker 30 Rbl

1 Flasche Amaretto 350 Rbl

1 kg Brot 3 Rbl

1 Metrobillet 15 Kopeken

1 Flugticket nach Deutschland 1200 Rbl.

Begehrte Kleidung wie Jeans sind nur über westliche Freunde oder bestimmte Läden erhältlich. Trotzdem sind Jeans keine Seltenheit. Die Menschen in Moskaus Straßen wirken zum größten Teil zwar etwas altmodisch aber keineswegs zerlumpt. 

Unsere Moskauer Reiseführerin hat ein Stipendium vom Goetheinstitut erhalten und fährt im August für 1 Monat nach Deutschland an eine Waldorfschule. Der Aufenthalt wird dort bezahlt, die Kosten für das Flugticket muß sie selber bezahlen. 1200 Rubel! Wie geht das? Ein Zucken der Schulter. Sie arbeitet neben ihrem Lehrerberuf als Dolmetscherin und als Reiseführerin. Doch kann dieser Fleiß diese gigantische Lücke schließen?

Bei einem anderen Anlaß spricht Larissa bezüglich dieser Versorgungslage über das "russische" Wunder. Sie meint damit folgendes: Das russische Volk arbeitet und produziert. Doch die Läden bleiben größtenteils leer. Im GUM gibt es für alle Artikel eigene Abteilungen. Ein Schild weist z. B. auf die Elektroabteilung, doch dort angekommen, sind die Regale leer. Aber trotzdem verfügen ihrer Meinung nach die meisten Leute über das Notwendige. Ein Wunderland also?

Doch nicht nur westlicher Verstand begreift dies nicht. Auch für sie selbst ist so vieles unbegreiflich. Der Gesichtsausdruck Larissas dazu ist schwer zu interpretieren. Unverständnis, ein Staunen, das nicht begreifen kann. Sonst so redegewandt und der deutschen Sprache mächtig, fehlen ihr dafür die Worte. Mein Gefühl muß diese Lücke schließen, um ihre Empfindungen zu erspüren.

Ich nenne es Hilflosigkeit, die Unfähigkeit von Kindern, die sie umgebende Welt zu verstehen. Der Verstand hilft nämlich nicht, zu verstehen. Wo soll eine Analyse der Mißstände ansetzen? Wie könnte eine Verbesserung herbeigeführt werden? Hier hört der Verstand auf zu arbeiten, zu viel Existentielles würde ins Wanken geraten. So bleibt es beim Schulterzucken und einem nicht erklärbaren Staunen in den Augen.

 

 

Ein georgisches Restaurant

 

Unsere Reisebegleiter führen uns an diesem ersten Abend in Moskau in ein georgisches Restaurant. Gleich neben dem Eingang begrüßen dich ein verschlissener Diwan und ein alter Vogelbauer mit Wellensittichen. Dieser Vorraum ist schmal und länglich. Er wird unterteilt in ca. 8 Tischgruppen, die durch geschnitzte Holzspaliere voneinander getrennt sind. Leises Gemurmel der anderen Gäste schlägt dir entgegen. Durch eine Art verglaste Veranda fällt das gedämpfte Licht der Abendsonne. Diese angenehme Atmosphäre wird jäh getrübt, als uns der Durchgang in einen größeren Raum  zunächst verwehrt wird. Es folgt eine kurze, aber kräftige Konversation zwischen unserem russischen Reisebegleiter und einer kräftig gebauten "Natascha", die wohl als Platzzuweiser fungiert. Tonfall und Lautstärke der Auseinandersetzung lassen nichts Gutes ahnen und wir bangen bereits um unser Abendessen. Doch wir "dürfen" stehenbleiben und warten, jetzt wird auch vorhin erwähntes Sofa nicht nur neugierig betrachtet, sondern genutzt. Nach bereits ein paar Minuten stehen mindestens nochmals 10 Personen in der Eingangstür und warten ebenfalls auf Einlaß. Wir warten -Gott sei Dank am Anfang der Schlange- wie Bittsteller auf eine besondere Gunst. Dann wird ein Tisch frei, man führt uns zu diesem Platz. Ein neugieriger Blick in die Teller der anderen Restaurantgäste ist vielversprechend. Fast dankbar lassen wir uns auf einfachen Holzstühlen nieder, der Blick fällt durch eine holzeingefaßte Veranda in einen kleinen schattigen Park. Bereits nach einigen Minuten -ohne irgendeine Bestellung, auch nicht durch Sergei oder Larissa- werden Saft und Teller mit verschiedensten Gerichten gebracht. Diese Vorspeisen, Sakuski genannt, werden auf Schüsseln oder Tellern serviert, jeder Gast bedient sich dann selbst. Bekannt ist auf den ersten Blick eigentlich nur der Salat. Tomaten- und Gurkenstücke sind schmackhaft zubereitet mit frischer Petersilie, Kerbel und Knoblauch. Die weiteren Gerichte sehen unbekannt aus und schmecken auch so.Wir beginnen zu raten. Ein herzhaft schmeckendes Gericht wird von uns der Reihe nach als deftiger Leberwurstsalat, scharf gewürzter Thunfischsalat oder scharf gewürzte braune Bohnen deklariert. Die Reisebegleiter zucken ebenfalls ratlos mit den Schultern. Aber an diese scheints typische russische Geste haben wir uns bereits nach diesen wenigen Stunden Aufenthalt gewöhnt. Ein späterer Blick in den Reiseführer sagt mir, es könnte letzteres gewesen sein, da dies als georgische Spezialität gilt. Eine andere Schüssel ist gefüllt mit einer weißen Soße, in der weiße Fleischknorpel liegen. Das Ratespiel beginnt von neuem: Schweinepfoten, Truthahnstücke, Kaninchen? Ein weiteres Gericht erzielt seltene Einmütigkeit: gefüllte Auberginen. In der Zwischenzeit ergibt sich ein Problem, das sich im Rückblick als der Anfang vieler Frustrationen und Pa­nikhandlungen erweist. Doch in diesem Moment nehmen wir nur verwundert wahr: no Bier, no Wein. Nun ja, diesmal zucken wir mit den Schultern und halten uns an den Saft (natürlich undefinierbarer Herkunft).Für die ganz Hungrigen wird dann noch ein Hauptgericht aufgetischt: Fleisch in Tomatensoße. Wer dabei etwas weiteres Exotisches vermutet hatte, wurde enttäuscht. Es glich haargenau dem Kartoffel-Fleisch Gulasch nach Kampf Omas Rezept.

Als wir aufbrechen, ist noch ein kurzer Blick in den anderen Raum möglich. Er ist sehr hoch, fast quadratisch. Auf einem Bord steht ein Kugelglas mit 3 glotzenden Goldfischen. Finken in einer kleinen Holzvoliere begleiten mit ihrem Gezwitscher das allgemeine Gemurmel. Das Auffälligste an diesem Raum ist jedoch ein wandfüllendes Fresko. Auf diesem Wandgemälde wird eine märchenhaft wirkende Landschaft in leuchtend blauen und grünen Tönen abgebildet. Ein verzaubernder, zauberhafter Eindruck.

 

 

 

Auf dem Roten Platz

 

Wir betreten das Herz Rußlands vom Platz des 25. Oktobers aus. Ein weiträumiger, leicht gewölbter Platz liegt vor uns. Keine Bäume, Brunnen, Blumenrabatten schmücken ihn. Ein funktional genutzter Platz, nicht um die Bürger eines Volkes zu erfreuen, sondern geplant und vorgesehen als Versammlungsort für Proklamationen, Aufmärsche, Gedenkfei­ern. Doch der Boden trug nicht nur Militärstiefel bei Paraden und ordensgeschmückte linientreue Werktätige. In früheren Jahrhunderten wurde er auch mit dem Blut Aufständischer getränkt. So ist dieser Platz ein Symbol staatlicher Macht. Auf der Bühne dieses Platzes spielt ein autoritäres System seine manipulierende Rolle. Demonstrationen der Stärke - Übermächtigkeit des Staates - Verführung und Unterdrückung der Masse; das sind die einzelnen Akte in diesem Theaterstück. Doch das Individuum löst sich hier auf, ein Platz, in dem der Mensch als Einzelwesen sich verliert, der einzelne bricht unter dem Druck dieser Allgewalt zusammen. Nur zusammengeschweißt zu einer Masse kann der Mensch als Gegenspieler zum Staat existieren. Die Bühne und der Zweck dieses Platzes haben sich im Lauf der Jahrhunderte nicht geändert, nur die Marionette Mensch hängt an immer ande­ren Fäden.

Dieser Platz wirkt an sich also bereits erdrückend und beklemmend, trotz der vielen schönen historischen Gebäude, die ihn umsäumen. Auch die vielen Menschen, die in Gruppen oder einzeln diesen Platz abwandern, können diesen Eindruck nicht schmälern. Der Platz ist von einer eigenwillig herben Schönheit, die einem nicht ein heiteres überchäumendes Lebensgefühl vermittelt. Würdig und gebieterisch zwingt er einem ein ehrfurchtsvolles Betrachten auf. Wesentlich verstärkt wird diese Empfindung durch ein Gebäude, das sich an einer der Längsseiten an der Kremlmauer befindet: das in den 20er Jahren gestaltete Lenin-Mausoleum. Ganz aus rotem Granit und schwarzem Labrador errichtet, ist dieser Monumentalbau nicht nur Mausoleum, das die Überreste Lenins aufbewahrt. Ebenso gilt es als Denkmal - in dem den ganzen Bau umlaufenden Labradorband ist über den Bronzetüren in kyrillischen Buchstaben der Name Lenins in rotem Granit eingelassen. Zwei Offiziere halten rechts und links neben der Bronzetür die Ehrenwache. Unbeweglich, starr, wie in Trance verharren sie in dieser Position eine Stunde lang. Zu dem stündliche Wachwechsel versammeln sich fast alle auf dem Roten Platz befindlichen Menschen vor dem Lenin-Mausoleum. Dicht gedrängt warten sie geduldig - und auch wir - auf das Schauspiel. Im  Stechschritt einem Präzisionsuhrwerk gleich, nähert sich die Wachablösung. Der Bewegungsablauf gleicht eher einem NC gesteuerten Roboter als einem menschlichen Wesen. Mit solch automatisierter Motorik läuft das Ereignis ab. Den uns umgebenden Russen ist es nicht anzusehen, was sie dabei empfinden. Ist es mehr als eine touristische Attraktion? Ist es eine verblaßte Verehrung von Lenin? Ein Zeichen ideologischer Akzeptanz?

Solcherlei Fragen entstehen zwar in meinem Kopf, doch Antworten finde darauf finde ich nicht.

Mittlerweile steht der Vollmond über der Basiliuskathedrale. Märchenhaft und geheimnisvoll heben sich die Kuppeln vom Nachthimmel ab. Angestrahlt vom Mondenlicht gewinnen die bunten Dekorformen eine unheimliche Lebendigkeit. Die Farbigkeit ist zwar etwas zurückgenommen, doch die Formkontraste treten bei diesem Lichte umso deutlicher hervor. Ein unbeschreibliches Spiel mit Formen und Farben. Wie ein Magnet zieht dieses Gesamtkunstwerk die Augen an. Nur widerwillig lösen sich die Sinne von diesem eigenartigen und einzigartigen Bauwerk. Die Faszination dieser Kathedrale schlägt dich in einen Bann, alle märchenhaften Visionen finden in einem Gebäude ihren Ausdruck. In staunende Betrachtung versunken vergeht die Zeit. Mittlerweile hat der Vollmond einen Kreis um die Kathedrale gezogen. Nur langsam löst sich der verträumte Bann, in den die Basiliuskathedrale mich geschlagen hat.

Rußland hat mich in diesem Moment begrüßt mit der ganzen Fremdheit und Schönheit einer anderen Kultur und mir mit einer Unzahl von Ahnungen das Herz gefüllt.

 

 

Flug nach Simferopol

 

Mit einer Iljuschin starten wir in Moskau Richtung Simferopol. Dieses Flugzeug trägt zumindest äußerlich alle Kennzeichen eines Seelenverkäufers: zerschlissene Sitzpolster, aufgebogene Fußbodenbeläge, die Bordküche versteckt hinter einem Plüschvorhang. Es beginnt ein Gerangel um die Plätze, denn die Sitzplätze sind zwar numeriert, aber nicht einem bestimmten Flugticket zugeordnet. Wir ergattern einen Fenstersitzplatz neben dem Notausgang. Die Maschine startet mit einem unglaublichen Getöse, durchs Fenster sehen wir die Triebwerke an den Tragflächen in heftigste schaukelnde Bewegungen geraten. Gleichzeitig strömt im Innern des Flugzeugs Rauch aus den Belüftungsschächten. Nur keine Panik, angeblich ist das nur Wasserdampf. Wir gewinnen an Höhe und nehmen Kurs auf Richtung Krim. Unter uns ziehen die weiten Felder der Ukraine dahin. Ein ebenes Flachland, in dem so scheint es, alle Arten von Getreidekulturen angebaut werden (Weizen, Mais, Hafer...) Wenige Straßen, nur kleine Ansiedlungen, teils Fabrikgebäude mit rauchenden Schloten. Wir fliegen ca. 2 Stunden mit einer Geschwindigkeit von 800 Stun­denkilometern. Während dieser 1500 km langen Flugroute verändert sich die Landschaft nicht. Ein Mosaik an Getreidefeldern, soweit das Auge reicht. Die Weite dieser Landschaft ruft nach Vergleichsmaßstäben. Die gesamte Bundesrepublik als eine einzige Kornkammer. Schwer vorstellbar. Wir nähern uns der Halbinsel Krim. Das Landschaftsbild von Flachland und Steppe gleicht dem der Ukraine. Mitten in einer braunen, kargen Steppe liegt der Flugplatz Simferopol. Nach einem schier endlosen Landeanflug sitzt die Maschine. Getöse, schaukelnde Bewegungen der Triebwerke, Rauch aus den Belüftungsschächten treten als bereits vertraute Begleiterscheinungen auf. Verwundert stellen wir fest, daß die anderen russischen Fluggäste ihre selbst verstauten Koffer nehmen und zielstrebig Richtung Ausgang eilen. Eine Dame von Intourist müht sich ab, das kleine Häufchen westlicher Touristen in einer Gruppe zusammenzuhalten. Peter und ich fallen ihr scheinbar nicht auf und so begeben wir uns alleine ohne Intourist Richtung Ausgang. Es bleibt die bange Frage: wo ist unser Gepäck? Eine Stewardeß kann weder Deutsch noch englisch, und ich nicht soviel russisch, um ihr unsere Sorge verbal mitteilen zu können. Doch siehe da: auf französisch gelingt uns eine Verständigung. Sie meint, unser Gepäck sei zur Abfertigung "Arrivee" gebracht. Bei glühender Hitze - schätzungs­weise 35 Grad - traben wir los. Am Ausgang erwarten uns bereits zwei Leute von Aerokonzept. Perfekt getimt wie auch schon in Moskau. Nach einer kurzen Begrüßung erklären wir unser Problem -keine Koffer- und geben es damit erleichtert an unsere Reisebegleitung ab. Nach einer halbstündigen Wartezeit verdanken wir nur einem glücklichen Zufall unsere Koffer. Beppo und Ernst sehen, wie sie gerade auf einen Bus nach Irgendwo verladen werden. Ein Koffer bleibt übrig. Wem gehört er? Hat jeder von uns seine Koffer? Wir sind zufrieden und ich denke mit Mitleid an das arme Schwein, das mit Sicherheit verzweifelt irgendwo genau diesen Koffer sucht. Schulterzuckend denke ich an Ernst abgewandelten Spruch: das Leben ist hart, aber gerecht.`

 

 

Auf der Krim

 

Das Kofferproblem ist gelöst, erleichtert lassen wir uns in die Sitze unseres bereitgestellten Kleinbusses fallen. Das Menschengewirr am Flughafen zurücklassend, geht es in Richtung Feodosija. Vorsichtige Kontaktaufnahme in Englisch. Wir verstehen Strand, Swimmingpool. Die erste neugierige Anspannung löst sich. Wir erfahren weiter, daß die attraktive Blondine selbst Kunstflugpilotin ist mit ca. 500 Stunden Kunstflugerfahrung. Erst später wird uns bewußt, wer uns hier höchstpersönlich in Empfang genommen hat: Galina ........., russische Vizeweltmeisterin im Kunstflug. Während dieser ersten Konversationsversuche rast Semjonow, unser Chauffeur, unerschrocken unserem Ziel entgegen. Die gewagtesten Überholmanöver durchführend, schaukelt er uns von einem Schlagloch ins andere. Wahrscheinlich ist auch er ein Vizeweltmeister bei einer mir bisher unbekannten, halsbrecherischen Disziplin. Es ist erstaunlich, was in einem Bus alles lose sein und klappern kann, ohne daß er auseinanderbricht. Zwei Stunden Fahrt in dieser Kiste und wir fühlen uns wie gerädert. Die Landschaft um uns herum muntert uns auch nicht gerade auf. Sie wirkt karg, unfreundlich, abweisend. Unbewaldete Hügel, überzogen mit braunem Steppengras, aufgelockert nur durch niedrige Sträucher. Weingärten oder Maisfelder sind die einzigen, wenigen Spuren landschaftlicher Bearbeitung. Entlang der Straße ziehen kleinere Dorfansiedlungen vorbei, "Idyllen" mit Gänseherden, angepflockten Ziegen, kauernden Kälbchen vor niedrigen Häuschen. Wir verlassen die Hauptstraße, rumpelnd kriechen wir bergwärts und nähern uns einem Hochplateau. Mitten in dieser öden Steppenlandschaft liegt ein umzäuntes Areal, einige schnuddlige Gebäude tauchen auf. Oh Gott, soll dies unser Aufenthaltsort für die nächsten 14 Tage sein? Mit weit aufgerissenen Augen des Erschreckens starren wir hinaus. Der Wagen hält tatsächlich abrupt, wir laden unsere Koffer aus, stapfen dem nächstgelegenen Gebäude entgegen, werden in unsere Zimmer im ersten Stock geführt. Unsere Zimmer wirken soweit sauber, altmodische, einfache Möbel, durchhängende Betten, ein ausgefranster Teppich, rote Stoffbahnen als Gardinen und als Begrenzung für einen Wandschrank stellen das Interieur dar. Das Prachtstück in diesem Sammelsurium ist eine alte Spiegelkommode, auf der eine Karaffe mit zwei Wassergläsern steht. Von diesem Zimmer führt eine Tür auf eine säulenumfaßte Veranda, von der man einen trist-schaurigen Blick über das verlassen gelegene Flugplatzgelände hat. Das Meer bleibt mehr eine Ahnung am Horizont als daß es die Augen wirklich wahrnehmen. Wir besitzen also nun für die nächsten Tage eine anmutig italienisch wirkende Loggia mit Ausblick auf eine karge russische Steppenlandschaft. Unser Interesse wendet sich nun den Sanitäreinrichtungen zu. Wir hätten unsere Neugierde besser zügeln sollen. Die hygienischen Zustände in unserem Bad sind deprimierend. Toilette, Waschbecken, Wände sind mit einer teils braunen Rost- oder einer weißen Kalkschicht überzogen. Die Romantik offenliegender Rohrleitungen zur Dusche runden den Eindruck ab. In dem gefliesten Boden fehlen einige Kacheln, was man aber inzwischen nur noch mehr als kleineren kosmetischen Mangel ansieht. Die Klagen der anderen, die inzwischen in unser Zimmer tönen, lassen ein ähnliches Bild erwarten. Bad und Toilette in den anderen Zimmern wirken grindig und eklig schmudlig, ein strenger unangenehmer Geruch entströmt den Einrichtungen. Nach diesem Vergleich kehren wir erleichtert in unsere Gemächer zurück, betrachten sogar fast liebevoll unseren Kühlschrank, den wir als weiteres Zugeständnis an Komfort begrüßen. Daß die Duschen dann überhaupt funktionieren, erscheint uns wenig später dann recht verwunderlich.

Kurze Zeit danach begleitet man uns zum Supper. Ein schmaler Weg führt durch trockenes, kratziges Gestrüpp an einem hohen Fliegermonument vorbei zu unserem Speiseraum. Auf dem Weg dorthin liegen rechter Hand zwischen kleineren Sträuchern und Bäumen geduckt zwei Reihen kleinerer Holzbaracken, die als Unterkunft für die russischen Piloten sowie anderes Flugplatzpersonal gedacht sind. Ein Fuhrpark mit Lastwagen, Autos, Traktoren und Bussen rostet scheinbar unbehelligt von menschlicher Wartung vor sich hin. Wir gehen auf zwei flache graubraune, schmucklose Gebäude, Fabrik- oder Werkstatthallen ähnlich, zu. An der Schmalseite des linken Gebäudes, vorbei an verrostenden Maschinenteilen, befindet sich eine weiße Holztüre, die einladend geöffnet ist. Durch diese schmale Öffnung blicken wir nun in unser Speisezimmer. Unsere erwartungsvoll weit aufgerissenen Augen nehmen einen winzigen, vielleicht 14 qm großen, weißgetünchten Raum wahr. Er bietet gerade Platz für einen Tisch, sieben einfache Stühle. Neben diesem Zugang von außen verbindet eine weitere Tür unser Speisezimmer mit der Küche. Ein winziges Fenster ist die einzige Lichtquelle in diesem Raum. Der Tisch ist bereits gedeckt und bedenkt man das ärmlich-häßliche Umfeld, möchte man fast von liebevoll üppig reden: Salat, Kaviarbrote, Käse, in einer Terrine Kohlsuppe, Käse, Brot Obst, Lammfleisch, Bratkartoffeln. Eine Porzellankaraffe enthält Saft. Alternative zu diesem Getränk ist aber lediglich ein medizinisch schmeckendes Heilwasser, das aus dieser Gegend stammt. No Bier, No Wein. Auf den Gesichtern einiger malt bereits Verärgerung ein deutliches Bild. Bald wird Panik die gleichen Gesichter entstellen.

 

 

Der Kunstfluglehrgang

 

Gleich nach unserem Abendessen beginnt der offizielle Teil: Vorstellen der Gruppe beim Flugplatzkommandanten Alexander Petrowitsch. Ein großer stattlicher Mann erwartet uns stehend hinter seinem Schreibtisch. Unsere Begleiter geben sich ihm gegenüber äußerst respektvoll und ehrerbietig. Wir nehmen Platz auf Stühlen, die an zwei Wänden entlang aufgestellt sind. So entsteht eine räumliche, achtungsge­bietende Distanz zwischen ihm und uns. Dabei trifft auf ihn das Sprichwort  "Kleider machen Leute" so gar nicht zu. Er steckt in einer weiten, schlapprigen Latzhose, die Hemdzipfel hängen vorwitzig aus der Latzhose heraus. So macht er eher einen lockeren, saloppen Eindruck. Äußere Rangabzeichen fehlen, die Autorität ist nur spürbar in der selbstsicher freien Art seines Auftretens und in der kraftvoll gehaltenen Begrüßungsrede. Erst nach und nach bringen wir in Erfahrung, daß A. P. wissenschaftliches Mitglied der Moskauer Universität, Staatspreisträger, ehemaliger Kunstflieger und vieles mehr ist. Doch zunächst werden wir nach der Vorstellung in "sein" Flugzeugmuseum geführt. Schon auf der Fahrt hatten wir von diesem bedeutungsvollen Museum gehört. Wie überrascht waren wir, als wir in einen kleineren Raum geführt werden, Vitrinen mit alten Segelflugzeugmodellen und alten Fotografien enthaltend. Doch uns vergeht das Schmunzeln, als A. P. zu seinem detaillierten Vortrag ausholt. In dem kleinen Raum ist das historische Material über Errungenschaften und Spitzenleistungen sowjetischer Segelflieger der 20er und 30er Jahre gesammelt worden. Jedes einzelne Foto wird erklärt, Bildnisse von Fliegern und Konstrukteuren (darunter so namhafte wie Antonow, Iljuschin) werden vorgestellt, technische Eigenschaften von Flugzeugen werden detailgenau vorgebracht. Eine ungeheure schauspielerische Leistung wird uns abgefordert. Lebhafter Gesichtsausdruck, interessierte Mimik, überraschter Augenbrauenhochziehen, sichtbares Staunen über die russische Pionierleistungen. Bald nähere ich mich einer Nervenkrise. Nach einer Dreiviertelstunde durchzuckt mich der Gedanke: Einer von uns muß dieses Schauspiel würdig beenden und sich in einer woh­geformten artigen Rede für diesen interessanten Vortrag bedanken. Englische Worte im Kopf zurechtlegend, Sätze formulierend und wieder verwerfend, verbringe ich den zweiten Teil dieser endlos scheinenden Führung. Die zu erklärenden Gegenstände werden immer weniger, mit Unruhe erwarten wir das Ende dieser russisch-englisch gedolmetschten Veranstaltung. Der Enthusiasmus von A. P. ist sogar nicht ansteckend und nur mit Mühe läßt sich ein Gähnen unterdrücken. Die Gesichtsmuskeln verkrampfen sich bereits, nur noch eine Urkunde wird erklärt, dann fällt der Vorhang. Keine Minute zu spät, sonst wäre ein hysterischer Anfall die einzige Rettung gewesen. Endlich also. Doch siehe da: Peter hat sich durch diese lange Stunde des Desinteresses und der Apathie noch einen Rest Gegenwärtigkeit bewahrt. Zwar in brüchigem, stockenden Englisch bedankt er sich im Namen aller für den interessanten Vortrag und holt sogar pathetisch weit aus, in dem er vom Beginn einer neuen deutsch-russischen Fliegerfreundschaft spricht. Gut gemacht Peter.

"Du wirst zu einer Stunde Museum verurteilt" Das war ab jetzt unser Spruch, wenn in den nächsten Tagen einer von uns ausrasten und sich über immer erneut auftauchende Mängel beschweren wollte.

Der nächste Tag sollte ganz der Theorie vorbehalten sein. In bestem fließenden Englisch wurde uns zunächst der Flugzeugtyp Yak 52 und dessen Sternmotor vorgestellt. Aerodynamisches Verhalten, Avioniks und ein Exkurs über die Wartung folgten. Unermüdlich prasselten die Begriffe und technisches Wissen auf uns herab. Bereits jetzt war absehbar: wer nur zwischen Strand und Cocktails ein paar Kunstflugrunden drehen wollte, war hier etwas fehl am Platz. Eine intensive, professionelle Schulung mit einem methodisch und didaktisch hervorragendem Trainingsprogramm warteten auf den künftigen Kunstflugpiloten. Zu diesem Zweck waren mit die besten Kunstflugpiloten abgestellt, die Rußland zu bieten hatte. Nationalmeister, Mitglieder der Nationalmannschaft, Vizeweltmeister. Dafür sollten die Kursteilnehmer folgende Eigenschaften mitbringen: echtes Kunstfluginteresse, Lernbereitschaft und leidliche Englischkenntnisse.

Nach einer kurzen Mittagspause erfolgte Fallschirmtraining und Operationen im Cockpit wie Starten, Check, Abstellen des Motors, Rollübungen. Als Lohn für diesen harten Arbeitstag winkte ein Badeausflug ans Meer.

Am nächsten Tag wurde dann das Fliegen ausgerüstet mit dem theoretischen Wissen des Vortages - in Angriff genommen. Dabei war der erste Flug als Test gedacht, der ein Einschätzen der fliegerischen Erfahrung der einzelnen Piloten möglich machen sollte. Darauf aufbauend, wurde dann ein individuelles Kunstflugprogramm vom zugeteilten Kunstfluglehrer unter Mitarbeit des Piloten entworfen. Immer wieder die Rückfrage: What's your intentions? Ob Sicherheitstraining, Formationsflug, Kunstflug, Only-For Fun Flüge, all solche Wünsche konnten nun angemeldet werden. Ohne die jeweilige Interessenlage ignorierend, und ohne den Piloten zu überfordern, erfolgte nun Schritt für Schritt ein Aufbauprogramm. Erklärung der Figuren am Boden im Schulungsraum, Vorführen der Figur in der Luft durch den Lehrer , ein let's make together und der daran anschließende Eigenversuch. In diesem Dreier-Schrittsystem wurden mehrere einfache Figuren wie Trudeln, Looping, Rolle, Immelmann usw. geübt. Jede Figur nicht öfters als norma­lerweise 2-3 mal durchführend, dauerten die Flugsequen­zen meist 3o Minuten. Wieder am Boden wurde die eben absolvierte Trainingseinheit durch eine zusammenfassenden Diskussion ergänzt. Es wurde auf Fehler aufmerksam gemacht, Korrekturen und Verbesserungsvorschläge unterbreitet. Trotzdem waren die ersten Kunstflugfiguren ein Verwirrspiel, das alle Sinne taumeln ließ. Der Ablauf der Figur war zwar eben theoretisch erklärt worden, aber die einzelnen Handgriffe wie z.B. beim Trudeln Gas raus, Höhenruder ziehen, rechtes Seitenruder treten,  Ausleiten des Trudelns durch Knüppel nach vorn, Treten des linken Seitenruders, Gas rein, Knüppel leicht ziehen vollzogen sich in einer schwindeler­regenden Geschwindigkeit und Ruckartigkeit. Die ersten Male läßt man dieses Schauspiel ablaufen wie eine aufgezogene Rädermaschine, versteht und begreift die Schnelligkeit nicht, mit der das Flugzeug die beabsichtigten Figuren durchführt. Erst nach und nach gelingt es, die einzelnen Handgriffe getrennt wahrzunehmen, die Instrumente im Cockpit wieder im Auge zu behalten, Referenzpunkte am Boden zu erkennen und beim Ablauf der Kunstflugfigur nicht aus den Augen zu verlieren. War der Wahrnehmungskreis beim ersten Mal nur auf einen Punkt geschrumpft, jedes weitere Training dehnte diesen Perzeptionszirkel konzentrisch aus.

 

 

Mascha, meine kleine Russisch-Lehrerin

 

Schon nach dem ersten Theorietag war mir klar, daß ich dieses harte Training nicht absolvieren wollte. Nur sporadisch beteiligte ich mich an den Theoriestunden und machte Only for Fun Kunstflüge.

Ich klinkte mich also aus der Trainingsgruppe aus, öffnete meine Sinne für andere Vorgänge und sondierte unser Areal nach für mich geeignete Beschäftigungsmöglichkeiten. Bewaffnet mit meinem Russisch-Sprachbuch belagerte ich also bereits am zweiten Tag die Bank vor unserem Hotel. Schon bald strich Mascha, die 9-jährige Tochter von A. P. wie ein neugieriges Kätzchen um mich herum. Ein Lächeln, ein Heranwinken und schon saß sie neben mir und schaute erwartungsvoll die fremde, deutsche Touristin an. Mit Gesten forderte ich sie auf, mir aus dem Buch russisch  vorzulesen. Nach jedem Satz unterbrach ich sie, wiederholte den Satz. Bald hatte sie begriffen, welche Rolle ich für sie vorgesehen hatte und mit wachsender Begeisterung übte sie ihre neue Tätigkeit aus. Sie lobte, nickte zustimmend, wiegte bei nicht korrekter Aussprache bedenklich den Kopf, fand auch allmählich den Mut, mich zu korrigieren. Mit meinem kleinen Wortschatz bildeten wir am Ende unserer ersten Lektion bereits eigene kleine Sätzchen. "Das ist Mascha", "Ich bin Andrea", "Das ist unser Zimmer", "Wo liegt dein Zimmer", "Wir sitzen auf einer Bank". Wenn ich in diesem Moment zurückdenke und mich dort am Ende der Welt mit einer kleinen Moskauerin sitzen sehe, muß ich unwillkürlich wehmütig schmunzeln. Vorsichtig, zaghaft, ohne das übliche Mittel der wohldurchdachten, abwägenden Worte knüpften wir ein zartes Band beginnender Freundschaft. Uns beiden stand die Freude ins Gesicht geschrieben, diese Brücke der Verständigung gefunden zu haben und diese Brücke erwies sich als stabil und trug uns sicher über die nächsten 14 Tage hinweg, vielleicht sogar in eine langjährige Brieffreundschaft. Manche russischen Arbeiter vom Flugplatz und auch welche von unserer Gruppe kamen an unserer Bank vorbei und jedem war das Staunen und die Verwunderung anzusehen über unseren gegenseitigen Eifer. Am nächsten Tag blätterten wir gemeinsam Bücher über die Krim durch. So lernte sie mir auf russisch die Farben, Zahlen und andere Gegenstände aus dem Buch. Mit ernster, wichtiger Miene schrieb sie mir diese russischen Wörter auf einen Block, ich mußte sie wiederholen und lernen. Bald arbeiteten wir jedoch schon dreisprachig. Ihre geringen Englisch-Kenntnisse berücksichtigend, bildeten wir eine Spalte für Englisch, Russisch und Deutsch. Wie stolz konnte sie lächeln, wenn ich ein von ihr gelerntes Wort in meine Sätze einbaute. Bald schon benutzten wir als Verständigung ein russisch-deutsch-englisches Sprachengemisch, das für die meisten anderen unverständlich blieb. An einem anderen Tag lernte ich alle Gegenstände, die auf einem Tisch stehen. Ich malte sie auf, sie beschriftete. An einem weiteren Tag fand ich sie mit einem kleinen Kätzchen spielen. Sofort war das unser neuer Unterrichtsgegenstand. Ich lernte: Katze, Kater, Kätzchen, Schnäuzchen, Pfote, Schnurrbarthaare und ähnlich wichtige Dinge. Wunderlich und herrlich zugleich waren diese kleinen Lektionen. Sie gehörten bald zu meinem festen Programm innerhalb eines Tages und zählen mit zu den innigsten Erinnerungen, die ich mir von der Krim bewahren werde.

 

 

Gedanken über unsere Freiheit

 

Die Freiheit des Menschen zu beschreiben, führt seit jeher eher zu einer Aufzählung von Unfreiheiten als zu einer positiven Niederlegung dieses menschlichen Phänomens. Doch die Begrenzungen der individuellen Freiheit durch Staat, Gesellschaft wohl auch Persönlichkeit des einzelnen sind in einem demokratisch geprägten Staat nicht nur erträglich, sondern voll akzeptiert. Erfährt bei uns der einzelne meist nur dort Begrenzungen, wo die Freiheit eines anderen leiden würde. Wie erträgt der Mensch nun veränderte Rahmenbedingungen, in denen ihm sein gewohnter Frei­raum selbst in der bescheidensten Ausprägung, in Form von Bewegungsfreiheit, beschnitten wird? Stirnrunzeln, Verwunderung, Verärgerung, Panik, Wutausbrüche, Resignation sind nur einige Stationen, die jeder von unserer Gruppe, je nach charakterlicher Veranlagung, mehr oder weniger ausgeprägt durchlaufen hat. Was, wann, wo wir etwas unternehmen ist -zumal in der Freizeit- individuelle Entscheidung. Ob alleine oder in der Gruppe obliegt ebenfalls meist persönlichen Vorlieben. An diesen doch elementaren, in einer Demokratie gelebten und bestätigten Grunderfahrungen wurde nun hier auf der Krim nur allzu arg gerüttelt. Individueller Unternehmensgeist war hier nicht eingeplant. Äußerst erfinderisch, wenn auch immer liebenswürdig, wurden unserem Tatendrang deutliche Schranken gesetzt. All das Spektrum individueller Männerwünsche wurden auf das hartnäckigste abgewehrt. Keine männlich -derben  Besäufnisse bei einem Kneipenbummel, kein Buhlen und Balzen um Miezen in Bars, kein Herumpfauen auf Strandpromenaden alles wußten unsere spitzfindigen Betreuer zu verhindern. Panik breitete sich bei mir erst dann aus, als sich herausstellte, daß auch meine kulturellen Sonderwünsche kaum eine Ausnahme zuließen. Und so wurden wir sieben westdeutsche Touristen -angeblich auf einem für Westler bis dahin verbotenem Terrain- in eine kollektive Gruppe zusammengeballt. Unsere "Auftritte" außerhalb unseres Flugplatzgeländes waren somit immer Gruppenveranstaltungen unter "Betreuung" unserer russischen Freunde. Ob beim Baden am Strand, beim Promenieren in Feodosija, bei der Biersuche in Simferopol, bei auswärtigem Mittagessen, immer waren wir zusammen und unsere Begleiter auf das heftigste bemüht, uns in dieser Herde zusammenzuhalten. Sicher, unsere Begleiter versuchten uns immer auf die netteste Art zu unterhalten und einzelne Wünsche zu erfüllen. Aber immer in der Gruppe. Individualität -so unsere Erfahrung- hat in einem kommunistischem System keine Existenzberechtigung. Menschen, die ihren eigenen persönlichen Interessen folgen, entziehen sich dem staatlichen Zugriff, sind nicht so leicht kontrollierbar. Zudem wächst mit jeder ausgeprägten individuellen Vorliebe das eigene Selbstbewußtsein und das Kollektivdenken tritt in den Hintergrund. Staat und Staatsinteressen würden scheinbar unter diesem Prozeß leiden und so wird in den Anfängen erstickt, was später möglicherweise eine Eigendynamik entwickeln würde. Auch wir als Westtouristen waren nun Teil dieser Staatsphilosophie und erlebten hautnah deren Auswirkungen.

Trotz all dieser weiß Gott ärgerlichen Rahmenbedingungen bleibt mir doch wahrscheinlich für immer eine rührende Szene in Erinnerung. Auf der Fahrt nach Simferopol kam es zu einem Gespräch im Bus, über die Sehenswürdigkeiten auf der Krim. So erzählte ich Galina und Andrej von Bachtschirassai, einem Palast, der den berühmten Brunnen der Tränen enthält. Er ist einem Gedicht von Puschkin nachempfunden worden und es gelang mir auf englisch, die ersten Zeilen dieses Gedichtes annähernd wiederzugeben. (Ich hatte es erst am Tag zuvor gelesen).Sie waren mehr als erstaunt, eine Deutsche mit diesem Wissen anzutreffen. Zudem nahmen sie nur zu deutlich meine nur mühsam zurückgehaltene Enttäuschung wahr, diesen und auch andere Plätze auf der Krim nicht besichtigen zu können. Dieses Gespräch vergaß ich dann, wir machten uns in S. auf eine wahrlich anstrengende Suche nach einem Restaurant und be­sichtigten das "schönste und größte" Kaufhaus dieser circa 100000 Einwohner zählenden Stadt. Vor diesem Kaufhaus nun - Andrej hatte sich für einen Moment aus der Gruppe entfernt -  versammelten wir uns wieder. Wir standen noch voll unter dem deprimierendem Erlebnis leerer Regale, der gigantisch hohen Preise, wenn Ware vorhanden war, der Lieblosigkeit, wenn nicht gar Häßlichkeit der Warendarbietung. Der suchend aktive Blick der Warenhausbesucher contra den passiv-gelangweilten Blick des Verkaufspersonals. Eine vage Ahnung befiel mich von der Mühseligkeit des Überlebens in diesem System. Wieviel Zeit verbringen Menschen damit, überhaupt lebenswichtige, alltägliche Dinge aufzuspüren. Neben vielen anderen politischen wie wirtschaftlichen Mißständen in diesem System ist dieser Zeitdiebstahl das unmittelbarste, unter dem man hier leidet. Die Sowjetunion erscheint wie eine organisierte Bande von Zeitdieben, um dem Menschen keine Zeit zum Nachdenken zu lassen. In solch düsteren Gedanken gefangen, tritt plötzlich Andrej auf mich zu. Er hat einige Bücher in der Hand und zeigt sie mir mit einem verlegenen Lächeln und folgenden Worten: Als Ersatz für all die Dinge, die er mir nicht zeigen darf. Erst jetzt erinnere ich mich wieder an unser Gespräch über die kulturellen Schätze auf der Krim und der erhaltenen Absage, diese zu besichtigen. Und nun diese Geste. Sie treibt mir fast Tränen der Rührung in die Augen. Inmitten all der Beschaffungsprobleme (Toilettenpapier fehlt, keine alkoholischen Getränke und vieles andere) hatte Andrej für mich ein Kunstbuch über die Krim aufgetrieben. Wo mag er es nur auf die Schnelle beschafft haben und zu welchem Horrorpreis? In all der systembedingten Enge "menschelt" es und findet ein rührend liebevolles Eingehen auf unsere Wünsche statt. Vielleicht mag diese kleine Szenengeschichte erklären, warum ich trotz der erlebten Mängel und Einschränkungen dieses Land ins Herz geschlossen habe. Nicht die objektiven Rahmenbedingungen, die eher abschrecken und erschrecken, sondern die menschliche Haltung, mit der diese Menschen die Rahmenbedingungen mit Leben und menschlicher Wärme ausfüllen, nimmt einen gefangen.

 

 

Ein Spaziergang

 

Ein schmales Tor passierend, eingeschnitten in den Zaunwall unseres Flugplatzes, wende ich mich dem Hügel zu. Zögernd ist der Schritt, folgt jemand meinem Weg? Nach den Erfahrungen mit dieser perfekt arbeitenden Überwachungsmaschinerie nimmt es Wunder, von niemandem beobachtet zu werden, niemanden sich in den Weg stellen zu sehen. Ein kleiner Flügelschlag von Freiheit rührt sich in mir und gleichzeitig der Gedanke, wie relativ der Begriff "Freiheit" ist. Ein umzäuntes Areal verlassen zu können, allein einen Berg hinaufwandern, kleine Freiheiten, die ich nun erfahre. Forscher holt mein Schritt aus, trotz der glühenden Hitze gehe ich mehr und mehr beschwingter. Meine Freude, das Flugplatzgelände verlassen zu haben, unbeobachtet und ungehindert, erfüllt mich mit spitzbübischer Begeisterung. Geist und Bewegungsablauf sind somit gleichermaßen beflügelt. Ein letzter Blick zurück, nein, es folgt wirklich niemand. Nun erst öffnen sich meine Sinne für die Natur, die mich umgibt. Die Fauna ist karg, ich bin auf einem Ausläufer der unbewaldeten Vulkanhügel. Unter mir erstreckt sich eine verkarstete Steppe, vor mir die dunkle, zackige Felskette des Kara Dag. Der Kara Dag als Überrest eines längst verloschenen Vulkans beherrscht eine seltene Mondlandschaft. Merkwürdig abgeschliffene Hügelformationen breiten sich vor den Augen aus. Die Bodenerosion durch Wind und Wetter hat eigenartige Kreise und Linien in das Gestein gezogen. Über dem Tal liegt ein milchiger Dunst, der die räumliche Wirkung dieser Bodenwellen sowie deren graphisch wirkende Muster etwas auflöst. Mitunter fällt es direkt schwer, an diese Realität zu glauben. Ich habe das Gefühl, mitten in einem surrealistischen Roman zu stehen. Doch die glühend flimmernde Hitze und vor allem das Gezirp von Millionen Heuschrecken sind real und wecken mich aus meinen Tagträumen. Hinauf, auf die Spitze des Hügels. Das Atmen fällt mir bereits schwer, doch ich will diesen Berg erklimmen. Schritt vor Schritt nähere ich mich dem Gipfel. Unter einem kleinen, verkrüppelten Perückenstrauch finde ich Schatten und erlaube mir eine kleine Rast. Riesige, rotgeflügelte Heuschrecken springen und fliegen an mir vorbei. Ihr Stimmengebraus wogt über den Hügel und hüllt mich ein. Die Natur singt mir damit ein verführerisches Lied und lullt mich ein. Ich fühle mich als Teil dieser Erde, gebe meine menschliche Existenz auf und füge mich ein in dieses Konzert des Lebens. Ruhe und Harmonie sind der Lohn für meine Selbstaufgabe. Mag dieser Zustand auch nur ein paar Augenblicke gedauert haben, aus dieser Versenkung tauche ich auf mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl. Für eine kurze Zeit war ich dem Urquell des Lebens nahe, habe ich die ewige Melodie des Weltalls gehört.

Motorengeräusche zerschneiden diese Einheit. Hoch über mir kreist eine der Yaks und schreibt aerobatische Hyroglyphen in den Dunsthimmel. Dieser Blick nach oben bringt mir nicht die Sehnsucht nach dem Fliegen. All meine Lebensfasern binden mich noch an die Erde und sagen mir gleichzeitig, daß meine Seele eben noch höher flog als je diese Yak es möglich macht.

 

 

Irrungen einer nächtlichen Traumvision

 

Schamgefühle steigen wie Luftblasen vom tiefsten Innersten auf. Sie schweben langsam nach oben und zerplatzen in meinem Kopf. Die Gedanken sind wie gelähmt, meine Finger spüren dieses mir längst vertraute Ziehen, das Unruhe und Nervosität ankündigt. Allein meine körperliche Anwesenheit hier ist mir peinlich, von Herzen wünsche ich mir eine Auflösung meines Hierseins.

In meinem Alptraum werden täglich als Abschluß eines Trainingstages Diskussionen über uns geführt: über unsere fliegerische Leistung -was normal wäre-  über unser Gruppenverhalten -was bedenklich wäre- über unsere Charaktere -was unerträglich wäre. Ich werde zu einem Gegenstand ihrer Studienzwecke , um ihr Konzept zu perfektionieren. Ich fühle mich damit einer Maschinerie ausgeliefert, die mich mit fremden Maßstäben mißt, sich mit anderen Wertsystemen an mein Ich herantastet. Während die Lebensumstände um uns herum katastrophal sind, beschäftigen sich unsere russischen Freunde mit Persönlichkeitsanalysen. Jedes Gespräch ist  Teil eines Psychotestes, die jeweilige Antwort wird in anschließenden gemeinsamen Diskussionen ausgewertet. Wir werden Beobachtungs- und Testpersonen eines Kontrollsystems, das den Wunsch nach fortwährender Verbesserung hat. Schweißgebadet und noch ganz unter dem Eindruck dieser nächtlichen Horrorvision meiner eigenen Phantasie beginne ich im halbwachen Zustand weiterzudenken. Finden derartige Bilder nicht ihre Aufhänger in der Wirklichkeit? Habe ich, übersensibel geworden in dieser kleinen Insel meiner Aktivitäten, solche Schwingungen aufgenommen? Bisher schien es nur Zufall, daß sich in dieser Trainings- und Betreuungsgruppe eine starke Anhäufung von Leistungsträgern befindet. Kaum eine Person, die nicht auf irgendeinem Gebiet eine besondere hervorragende Leistung vollbringt: Wissenschaftler (A. P.), Künstler (Gula) und natürlich die Spitze der russischen Kunstflugpiloten. Mißt uns diese Elite  nun mit ihrem ganz auf Leistung orientiertem Wertmaßstab? Eine Begegnung von Mensch zu Mensch schiene mir nun unter diesen Umständen gänzlich unmöglich. Der Mensch, als ein vom Staat beauftragtes Wesen, Leistung zu vollbringen. Ist dieser Wunsch in einem von uns wenigstens rudimentär vorhanden, mag er die Akzeptanz dieser Geist- und Körperathleten finden. Der Wunsch jedoch nach einer Begegnung mit einer anderen Kultur, Vergnügungen im Urlaub, Dinge also, die nicht in diesen Leistungsring gehören, würden dann als ungehörig eingestuft werden. Gewogen und für zu leicht befunden. Heroen der Leistung als Richter über oberflächliche "glückliche" Kinder einer anderen Welt. Ein unheimlicher Traum, der mir die Perlen der Angst auf die Stirn treibt. Mit einer schnellen, unwilligen Kopfbewegung will ich die Ge­spenster dieser Nacht abschütteln. Doch noch lange stehe unter dem Alp dieser Vorstellungen. Waren sie wirklich nur ein Traum der Nacht?

 

 

Aiwasowski - ein ungewöhnliches Kunsterlebnis

 

Gespräche mit Gula werden immer mehr ein Austausch über unser Kunstverständnis. Als Angehörige einer Neuen Kunstbewegung - der russischen Avantgarde - hat nur wenig "alte" Kunst vor ihren Augen bestand. Vieles wird als "Ancien" eingestuft und abgewertet. Doch ein Künstler der Krimlandschaft taucht immer wieder in den Gesprächen auf. Ai­wasowski. Wenn nicht Verehrung, so sprach doch tiefer Respekt vor seiner künstlerischen Leistung aus ihr. Bald entstand der gemeinsame Wunsch, A. einen Besuch abzustatten. In seinem Haus in Feodosija war nämlich ein Kunstmuseum entstanden, das sich ausschließlich auf sein Wirken konzentrierte. Doch in diesem Land ist nichts problemlos und schon gar nichts privat möglich. Eine gemeinsamer Ausflug Gulas und mir wurde offenbar nicht erlaubt. P. A. mußte wieder organisieren, ein offizieller Besuch der Galerie wurde arrangiert. Leider war dann merkwürdigerweise gerade an dem angesetzten Tag Gula krank war, und so war A. P. der Reiseleiter, Mascha seine Tochter wirkte, als habe man sie zu diesem Bildungsprogramm verdonnert, Andrej als Dolmetscher rundete unsere kleine Gruppe ab. Denn nur für Peter und mich wurde diese kulturelle Zusatzveranstaltung durchgeführt. Nach halbstündiger Autofahrt hielt der Bus in Feodosija an einem uns bereits bekannten Platz. Das Museum lag direkt an der belebten Strandpromenade. Eines dieser typischen Häuser aus dem letzten Jahrhundert, an denen der Architekt die unterschiedlichsten Stilelemente der griechischen und römischen Kunst ausprobiert und mit mehr oder weniger Geschick gemischt hatte.

Über einen verwilderten Hinterhof gelangen wir in den kleinen Vorraum des Museums. Eine Frau -die Museumsdirektorin?- wirkte wie eine der vielen Machtträger Rußlands, deren Würde sich allein aus einer bevorzugten Arbeitsstelle ableitete. Sie erweckte den Anschein, als wäre es ihr persönliches Vorrecht, den Einlaß in dieses Museum zu ge­währen oder zu verweigern. A. P. selbst ein Machtträger, akzeptierte jedoch ihr Machtrevier. Und so wurden zuerst russische Artigkeiten ausgetauscht, eine Medaille, eine in ganz Rußland begehrte Trophäe, wechselte den Besitzer und wenn ich mich nicht täusche, kam es auch zu einer versteckten Geldübergabe. Wie sich jetzt nämlich zeigte, war die Galerie eigens für uns heute geöffnet worden und uns erwartete eine Sondervorstellung. Eine unglaublich dicke, unglaublich rothaarige Russin setzte sich an die Spitze unserer Gruppe und übernahm die Führung.

Ein länglicher Vorraum war dem Leben Aiwasowski`s gewidmet. Fotografien, persönliche Gegenstände des Künstlers dokumentierten anschaulich seine Biographie. Kenntnisreich und zugleich liebevoll wurden diese Schaustücke die Aufhänger für die Ausführungen unserer "Kunstführerin". Geschickt flocht sie kleinere Anekdoten aus dem Leben des Künstlers in ihre Erzählung ein. Leider sind mir nur die wichtigsten  Lebensstationen in Erinnerung geblieben: A. wurde Mitte des letzten Jahrhunderts in Feodosija geboren, besuchte die Militärakademie in Sewastopol. Dort entstanden seine ersten kleineren Bleistiftzeichnungen und Aquarelle. Die ersten Sujets waren Portraits, Schiffszeichnungen, kleinere Landschaften. Nach etlichen Irrungen und Wirrungen seines Lebens, die mir leider entfallen sind, kam er wieder nach Feodosija in dieses Haus zurück. Hier entstanden dann in den folgenden Jahren seine berühmten Gemälde. Der Vortrag war durchaus interessant, aber ihre Liebe zu Details und Jahreszahlen war doch anstrengend und eher ermüdend. Endlich aber führte sie uns in den angrenzenden Ausstellungsraum mit den Exponaten.

Der erste Eindruck war atemberaubend. Eine ungeheure Farbgewalt entfaltete sich hier. Wenn ich heute die Augen schließe und meine Erinnerung an jenen Augenblick zu­rückführe, sehe ich immer noch die Unendlichkeit seiner Blautöne. Das Meer, Schiffe, Menschen in Seenot, ringend mit den Naturgewalten - diese Themen wurden in riesigen Wandbildern aufbereitet. Obwohl von unserer Kunstexpertin als Marinemaler bezeichnet -oder schlich sich ein sprachliches Mißverständnis ein- erschien er mir eher wie eine Landschaftsmaler der Romantik. Ein Caspar David Friedrichs des Meeres.

Doch auch das Wort Landschaftsmaler trifft diese Schau der Natur nur ungenügend. Das Meer wird zu einer heroisierenden Landschaft, in der die Erhabenheit und die Ewigkeit der Schöpfung verherrlicht werden. Eine überdimensionales Wandbild trägt den Titel: "Zwischen den Wellen". Das aufgewühlte Meer wird auf einer riesigen Fläche zum al­leinigen Thema. In unbeschreiblicher Gewalt und Dynamik ist dieses Naturelement abgebildet. Ungebrochen, schäumend, losgelöst von menschlicher Existenz, vom Anbeginn der Welt bis zum Ende der Zeiten. Ewigen Gesetzen gehorchend. Zeitliche und räumliche Weiten suggerierend, führt es den menschlichen Betrachter in melancholische Einsamkeiten. Verlassenheit und Nichtigkeit menschlichen Hierseins verdichten sich zu einer schwermütigen Stimmung.

Menschen, die in seinen anderen Bildern auftauchen, sind ein Spielball der Natur, menschliche Tragik zerbricht an der Gefühllosigkeit der Natur. Doch allein das Wort Gefühllosigkeit ist falsch gewählt. Zeigt es doch an, daß man mit menschlichen Wertsystemen be- und verurteilt. Doch diese Natur ist einfach gleichgültig gegenüber den menschlichen Winzlingen. Das Meer, das hier brausend und allgewaltig das Lied der Ewigkeit singt, nimmt die menschlichen Klagelieder nicht wahr.

Viele seiner Bilder enthalten Allegorien auf menschliche Lebensphasen und Gefühle. Sehr einfühlsam versteht es unsere Russin, diese Allegorien herauszuheben. Sie erweist hier immer mehr als fundierte Kunstkennerin und Aiwasowski-Spezialistin.

Diese Malerei kann nur einem tiefen religiösen Empfinden entspringen. Diese Ahnung wird bestätigt in einem weiteren Ausstellungsraum. Hier findet man kleinere Werke mit religiös-christlichen Motiven. Jesus am Kreuz, die Jünger am Ölberg, um nur einige zu nennen. In einem kleinen Raum sind sie hier alle versammelt, Figuren des alten und neuen Testaments. Flüchtig nur werden sie im Gespräch gestreift, fast verschämt bekennt unsere Kunstführerin sich zu dieser Seite im Werk Aiwasowski's. Der modernen Sowjetunion, dem kommunistischem Atheismus verpflichtet, sind diese Sehnsüchte des Menschen nach Religion eher unangenehm. Marx und Gott - beide passen eben nicht gleichzeitig in ein Weltbild. Vielleicht war daher die Einstufung Aiwasowski's als Marinemaler eben doch kein Hör- und Übersetzungsfehler?  

 

 

 

Charakterliche Kurzbiefe

 

Galina, die russische Kommissarin

Perfekt in der Englisch-Konversation - sie hatte Anglistik studiert - perfekt ihr fliegerisches Wissen und Können, perfekt ihr Aussehen - blond und blauäugig war sie eine perfekte Vertreterin des Moskauer Typs- . Ist Perfektionismus ein Mangel? Eine Unverbindlichkeit, die zur Kälte wird, eine Freundlichkeit, die zu einer gesellschaftlichen Pflichtübung erstarrt. Trotz mancher interessanter Gespräche blieb  sie die einzige, zu der ich keinen näheren Kontakt fand. In vielen Szenen erwies sie sich als ein Charakter, den man in unserem System einfach als Oberlehrer bezeichnen würde. Vor allem Olga tadelte sie oft mit schneidender Schärfe, wenn diese naiv und offen ins Plaudern geriet, und sich spielerisch kokett über das ewige Thema Fliegen beschwerte. Rüde und harte Worte fand sie, wenn Olga oder Sergej Fehler in Englisch machte, oder mir einmal ein Wort auf russisch falsch deklinierte.            

Sie war eine Frau mit metallisch glatter Oberfläche, die an sich und auch an anderen keine menschliche Schwäche duldete. Kritik am russischen System äußerte sie nie, war sie eher eine selbstbewußte Angehörige einer Leistungskader, und fühlte sich vielleicht auch daher diesem Staat zu dankbarer Loyalität verpflichtet. So hörte man auch eher leise und mit Ironie vorgetragene Kritik an so typisch westlich orientierten Freizeitwünschen wie Restaurantbesuche, Promenieren, die Lust auf ein Gläschen Wein am Abend. Sie äußerte sich aber auch nie zu den revolutionären Experimenten eines Gorbatschows, doch kann auch Stillschweigen ein Werturteil, vielleicht hier ein negatives , bedeuten. Wir hörten später, daß ihr Vater ein hohes Militärtier sei, und sie mit ihren Eltern in einem militärisch abgeschirmten Moskauer Bezirk lebt. Machte sie das zu einer kadertreuen sowjetischen Kommissarin?

Was aber war nur mit Ernst Georg passiert, sich auf sterbliche Art ganz unsterblich in diesen unnahbaren Eisblock zu verlieben? Es muß ihn wie ein Virus befallen haben, urplötzlich , wir alle reagierten nur mit Kopfschütteln und ungläubigem Staunen "das gibt's doch nicht". Gehörte er in den ersten Tagen zu den größten Miesmachern und Querulanten, verklärte sich unter dem Einfluß dieses Liebesviruses sein Weltbild zu einer rosa Gesamtschau. Wie ein verliebter, liebestoller Kater schlich er herum, mit einem "schau mir in die Augen, Kleines" Gesichtsausdruck. Er, der bisher beharrlich in vielen Gesprächen sein Image als Playboy, Lebemann und Chauvi pflegte, scharwenzelte in der lächerlichsten, unwürdigsten Art. Irgendeine von uns nicht bemerkte Gehirnwäsche mußte ihn in ein sklavisch ergebenes, treulich bei "Fuß" gehendes, purzelbaumschlagendes Schoßhündchen verwandelt haben. Treu doofer Gesichtsausdruck mit Triefeblick inklusive.

Konnte er sie damit erweichen? War sie gerührt von soviel Liebeswahnsinn? Spielte sie mit ihm?

Wie auch immer, konnten wir so eine rührend-rührselige, russisch-deutsche Liebesgeschichte miterleben, wie kein Simmel sie herzergreifender erfinden könnte.

 

Olga, das Mäuschen

Nur ca. 1.50 groß, zierliche Figur, zart geschnittenes, feines Gesicht, wirkte sie wie eine kleine, aber keineswegs graue Maus. Ihre Mausigkeit wurde noch unterstrichen durch ihre kokett eifrige Art zu Reden und ihre fast drolligen Redewendungen in Englisch. Niedlich und süß also anzusehen, war sie aber gleichzeitig Flugzeugkonstrukteurin und Kunstflugpilotin. Diesen Gegensatz mußten die Männer erst einmal verkraften. Interessant, wie Männer dies verarbeiten. Für fast alle war damit nämlich ihr Reiz verflüchtigt. Wie hätten sie sich bemüht um Kontaktaufnahme, wenn sie das entzückende Betthäschen des Flugplatzes gewesen wäre. Doch sich so  als Gesprächspartner sich ihr zu nähern, fanden sie kaum der Mühe wert. War es doch nicht einmal mehr möglich, sich als mutiger Akrobat der Lüfte  eine bewunderungswürdige Aura zu verschaffen. War ihnen doch diese kleine "Maus" kunstfliegerisch weit überlegen.

Zwar unpolitisch, merkte man jedoch selbst ihr an, daß die Russen in eine neue Welt aufzubrechen bereit waren. Mit einem wahren Feuereifer lernte sie Englisch, paukte Wörter, studierte Grammatiktabellen und war überhaupt wie versessen auf jedes Gespräch. Für sie war ja die englische Sprache die einzige Möglichkeit, mit uns zu kommunizieren. Und sie war ja so neugierig auf uns und unsere Welt. Eifrig plaudernd, oft mit Händen und Füßen redend, andere um Dolmetscherdienste bittend, verbrachten wir manche Stunde, in ein Gespräch vertieft. Dabei tauschten wir unser ganz privates Leben, zwar eingebettet in verschiedene Weltsysteme, aus. Beruf, Freizeitgestaltungen, Hobbys, der ganz persönliche Tagesablauf. Für sie war unser Aufenthalt hier eine faszinierende Möglichkeit, einen Blick in unseren "goldenen Westen" zu erhaschen.

Offen, eifrig interessiert und mit einer fast kindlichen Neugier begegnete sie uns. Dabei mußten nicht erst staatlich und systembedingte Vorurteile aus dem Weg geräumt werden. Ablehnung, vorsichtige Distanz, Ressentiments gegenüber Deutschen, Neid - keines dieser schwarz gefärbten Gefühle waren meines Erachtens vorhanden und erschwerten den Kontakt. Man nahm sich gegenseitig als Mensch an, auf eine sehr private und persönliche Art. Bald war man -was ich auch noch mit anderen erleben konnte- in einer derart offenen Beziehung zueinander, die bei uns oft erst nach jahrelangem Kontakt möglich ist. Eine Begegnung also ohne Masken, Verstellung, ohne alle Künstlichkeit und Verkrampftheit.

 

 

Zurück nach Moskau

 

Mit dramaturgischen Effekten gestaltet Moskau diesmal unseren Empfang. Donner und heftige Gewitterböen erschüttern das landende Flugzeug. Blaue Blitze erhellen gespenstisch das nächtliche Moskau. Daß das ganze kein inszeniertes Theaterstück, sondern rauhe, vielmehr nasse Wirklichkeit ist, erfahren wir, als das Flugzeug nach guter Landung stoppt. Kein Bustransfer Die anderen Passagiere des Flugzeugs erwarten so etwas gleich gar nicht, schnappen sich ihre Koffer und stürzen an uns vorbei, hinaus in den Gewitterregen. Da weder ein Ende des Platzregens noch das Nahen eines Busses in Sicht ist -nicht einmal das Nahen einer Absicht eines Busses - wagen auch wir uns hinaus. Nach einer kurzen Orientierung -das Flugplatzgelände liegt ca. 700 Meter entfernt- jagen wir los. Der Regen prasselt auf uns herab, Wind peitscht über das Gelände und zerrt an unseren Kleidern, blaue Blitze zucken über unseren Köpfen, vor uns teils sprintende, teils stolpernde Menschen. In langen weiten Sätzen eilen wir hinterher. Der Regen klatscht ins Gesicht, das Wasser der Regenpfützen schwappt über und durch die Schuhe. Nur gleichmäßig atmen, wir überholen bereits die letzten, das schützende Gebäude kommt immer näher. Nur noch 200, 100 Meter. Der Atem geht bereits ungleichmäßig und stoßend, doch schon ist es geschafft. Prustend und sich schüttelnd stehen wir in einer großen Halle. Die Menschen ums uns und auch wir haben uns auf die paar Hundert Meter deutlich verwandelt. Nasse, schnaufende, prustende Tiere. Unser kleines Häufchen ist trotz des allgemeinen Wirrwarrs bald zusammen. Auch wir gleichen eher einer versprengten Tierherde. Weltmännisch überlegene Arroganz haben die "paar" Regentropfen weg­gewaschen. Für ein paar wenige Augenblicke sind sie Menschen ohne Schale. Ich grinse in ihr nasses, nacktes Gesicht. Doch nur von kurzer Dauer war diese Öffnung. Schon beginnen sie zu schimpfen und querelen über diese "unwürdige" Behandlung.

Ich streife mir das nasse wirre Haar aus dem Gesicht, zupfe verrutschte Kleidungsstücke wieder an den alten Platz und beginne mich dann neugierig umzusehen. Hier am Moskauer Inlandsflughafen sehe ich zum ersten Mal fremdländisch wirkende Menschen. Die europäischen Gesichtszüge sind zwar vorherrschend, doch dazwischen stehen dunkelhäutige Männer und Frauen mit schmalen Augen, dunkelschwarzem Haar, asiatisch mongolischen Backenknochen. In russischer Gelassenheit warten sie . Warten ist in Rußland eine ernst zu nehmende Tätigkeit. Es füllt den Menschen ganz aus. Wir Deutsche warten unruhig, die Augen wandern umher, der Körper kann sich nicht still halten, die Mimik wird immer gereizter und legt Nervosität frei. Unsere aktive westliche Welt kann nicht warten. Jede Zeit muß mit Handlung ausgefüllt sein. Warten ist sinnlos, Verschwendung. Geldverschwendung mag noch gesellschaftlich akzeptabel sein -schließlich ist sie der Nährboden unseres Wirtschaftssystems-. Aber Zeitverschwendung wird nicht toleriert. Doch die Menschen um uns beherrschen diese Kunst des Wartens. Man wartet träge, entspannt, ohne -zumindest sichtbare- Unge­duld. Das Ziel des Wartens wird sich schon einstellen. In Minuten, Stunden, Tagen? Es wird sich zeigen. Es ist ein träges, dumpfes Warten, das einen surreal anmutet wie das Theaterstück von J.Becket. Manche überbrücken den vor ihnen liegenden Zeitraum mit schlafen, rauchen. Wenige nur füllen die Leere mit Gesprächen. Die meisten warten ruhig und stumm. Nur die Kinder fügen sich noch nicht so reibungslos ein in dieses kollektive Warten. Manche weinen, starren trostlos und gelangweilt. Doch ihre

Mütter und Väter reagieren nicht gereizt, sie beruhigen ihre kleinen Kinder, stillen sie, wiegen sie in den Armen. 

All unser Warten war auf die Wiederbeschaffung unserer Koffer gerichtet. Nach nahezu zwei Stunden kam Peter der Gedanke: Nicht die allgemeine Abfertigung ist für uns zuständig, sondern Intourist könnte sich unserer Koffer bemächtigt haben. Wir brechen uns eine Bahn durch die wartenden, teilweise inzwischen lagernden Menschenmassen; schlängeln uns vorbei an Kofferbergen, Holzkisten, Lebensmittel- und Obststeigen, abgelegten schlafenden Kindern, rauchenden Männergruppen, stillenden Müttern, blinzelnden Frauen, die wie ein Wachhund ihr Hab und Gut bewachen. Die wenigsten nehmen Notiz von uns, nur einige wenden uns ein Gesicht verschlafener Neugier zu. Wir verlassen das Gebäude des Inlandflughafens unbelästigt und wenden uns dem nächsten Eingang, groß beschildert mit "Intourist - nur für westliche Touristen" zu. Lange einsame Gänge führen uns tatsächlich ans Ziel: verlassen aber unbeschädigt warten hier unsere Koffer. Müde, aber erleichtert schnappen wir uns unsere Koffer. Zumindest ich fühle mich inzwischen wie ein wandelndes Schlafross und meine Gedanken konzentrieren sich nur auf eines: Hotel und Schlafen. Doch noch ein besonderes Abenteuer wartet auf uns.

 

 

 

Begegnung mit der Flugplatz-Mafia

 

Vor dem Flughafen steht ein Kleinbus, den Sergeij, unser Reisebegleiter besorgt hat, bereit. Endlich ist es gelungen, alle 7 Koffer und alle 9 Menschen in das Gefährt hineinzuschlichten. Randvoll, in atemberaubender Enge warten wir auf den Aufbruch. Eine gewisse Gereiztheit kann man uns angesichts der fortgeschrittenen Zeit und der hinteruns liegenden Umstände nicht absprechen. Was ist los! Sergej steigt wieder aus. Verwunderung breitet sich im Wagen aus. Wir suchen den nächtlichen Platz mit den Augen ab und sehen Sergej gestikulierend bei einer Gruppe von Männern stehen. Was soll denn das! Hält er jetzt ein mitternächtliches Freundestreffen ab? Nichts deutet von unsere Autoperspektive auf Gefahr. Sergej kehrt langsam zum Auto zurück. Irgend etwas stimmt doch da nicht! Warum brechen wir nicht auf? Der Chauffeur und Sergej stecken jetzt die Köpfe zusammen, scheinen zu beratschlagen. Beppo brüllt verärgert zum Fenster hinaus: "Warum fahren wir nicht?" Wir können gar nicht glauben, was Sergej in brabbelndem Englisch von sich gibt. Doch ein Blick in sein besorgtes, auch Unsicherheit verratendes Gesicht, läßt es wahr erscheinen: Mafia.

Wir dürfen nicht weiter, ohne ein Kopfgeld von 30,- DM entrichtet zu haben. In meiner fatalistischen Grundstimmung, die ich mir in diesem Land zu eigen gemacht habe, denke ich mir: "Wenn's nicht mehr ist. Sind ja richtig bescheiden, diese Brüder. Gebt ihnen ihr Trinkgeld und endlich ab ins Hotel." Doch wieder einmal eine Situation, die die Kluft zwischen Männer- und Frauendenken aufzeigt.

Just in dieser Situation entdecken einige unsere Gruppe ihren Gerechtigkeitssinn. Männlich gekränkte Eitelkeit läßt sie die Brust anschwellen, entringt ihrer Brust einen animalisch rauhen Aufschrei: Niemals. Irgend ein archaischer Revier Verteidigungsinstinkt muß unbedachterweise geweckt worden sein. Weiblich antrainiertes Rollenverhalten läßt mich angesichts dieser männlichen Gewitterwolken den Kopf einziehen. Jeder verbale Versuch auch seitens Peter scheitert an diese männlichen Selbstdemonstration. Mit Worten wiegeln sie sich gegenseitig auf zu größten Heldentaten, wollen bereits ärmelhochkrempelnd aus dem Auto stürzen. "Den russischen Birscherl wer mas scho zoagn" Niederbayerische Bierzeltmentalität paart sich mit pioneerhafter Kampfeslust. Sergej versucht zu beschwichtigen, erklärt ihnen, daß der "Gegner" nicht nur aus den 3 schmächtigen Männern besteht, sondern nur einen Vortrupp darstellen. Er beschwört nächtliche Verfolgungsjagden und von Mafia provozierte Autounfälle, falls wir die Absicht zum Widerstand hätten. Inmitten dieses Krimiinszenariums steht auch die korrupte Verbindung zwischen russischer Polizei und Mafia.  Beschwörend versucht er uns die Sinn- und Ausweglosigkeit jeder Gegenwehr vor Augen zu führen. Also keine nächtliche Messerstecherei, keine hitzige Schlägerei, die erhitzten Gemüter beginnen sich abzukühlen, lassen wieder die Vernunft regieren. Vielleicht sogar ein bißchen erleichtert, hat sie möglicherweise der eigene Mut selber erschreckt. Das Gehirn hat wieder Oberhand gewonnen über uralte Handlungsreflexe.

Wir kaufen uns also mit 30,- DM pro Kopf frei und endlich rücken Hotelzimmer und Bett in greifbare Nähe.

 

 

Sightseeing in Moskau

 

Hemmnisse

Spröde und abweisend zeigt sich diese Stadt, vor allem dann, wenn man sich ihr als Einzeltourist nähert. Man ist hier noch allenthalben auf den Gruppentourist eingestellt, der sich mit dem Reisegiganten Intourist planmäßig die verordneten Sehenswürdigkeiten einverleibt. Wohl hatten wir ja als Reisebegleiterin ein wahres Schmuckstück von Aerokonzept zugestellt bekommen: Anja, ein russisch sprechende Slawistikstudentin aus Göttingen. Redlich mühte sie sich ab, die auseinanderstrebenden Wünsche unserer Gruppe zu koordinieren: Kunst, Bars, Fernsehturm, Flugzeugmuseum und und und. Doch gerade hier erwies sich, wie schwierig es ist, als Einzelperson quasi im Alleinkampf mit dem Giganten Intourist eine solide touristische Organisation anzubieten. Während Intourist fast alle Kontingente an Eintrittskarten für Museen, teils Kirchen , Theateraufführungen aufkauft, waren diese Dinge für Anja ein zermürbender nerven- und zeitaufreibender Kleinkrieg. Mühseliges, stundenlanges Anstehen um Karten, Bereitstellen von Bussen, Reservierungen in Restaurants- alles kostete Zeit.

Der Intourist behütete Reisende bekommt in vollklimatisierten Bussen modernster Ausstattung in staubfreier Atmosphäre Moskau serviert. An gezielten touristisch attraktiven Plätzen wird die Gruppe ausgespien, darf sich der Gast an den wohlabgewogenen Kunstgütern ergötzen und wird dann anschließend in Touristenhotels abgeliefert. Die sind zwar hermetisch von der russischen Bevölkerung abgeschirmt, aber dafür kann er bei mittlerem westlichem Standard amerikanischen Whisky mit Cola und holländisches Bier genießen. Auch wir waren gezwungen, diese komfortablen Westinseln inmitten der Stadt anzusteuern. Denn man muß wissen: inmitten  grauer Steinwüsten, plumpen und wenig sympathischen Gebäuden, düsteren Verwaltungsgebäuden bietet diese ca. 9 Millionenstadt gerade mal eine Handvoll Cafés. Der müde Wanderer irrt von Durst und auch von leichtem Hunger getrieben ganze Straßenfluchten ab. Aber das angestrebte Café ist entweder gar nicht mehr vorhanden, geschlossen oder von einer unübersehbaren Menschenmenge belagert (geschätzte Wartezeit zwei Stunden).

Auch das Metronetz ist darauf ausgerichtet, manche zeitliche und konditionsmäßige Kapazität deutlich zu überschreiten. Moskau verfügt zwar über ein ausgedehntes U-Bahn Netz. Aber ein umständliches System zwingt einen ich möchte fast sagen Stunden unter die Erde. Sicherlich sind dabei die wahrhaft prächtigen Metrostationen als Lichtblicke zu werten. So finden sich hier die unterschiedlichsten Stile versammelt: glanzvolle Jugendstilsäle, prächtige herrschaftliche Palaststuckaturen, aber auch sowjetischer Realismus mit Verherrlichungen des russischen Arbeiter- und Bauernvolkes. So ist bereits das unterirdische Wegenetz ein Streifzug durch Moskau.

Man sieht, eine Stadt, um die man sehr beharrlich werben muß. Doch beileibe besteht Moskau nicht nur aus Mühsal und Bekümmernissen. Belohnt wird der geduldig Ausharrende mit unbestritten hochkarätigen, ehrwürdigen Kunstschätzen, als da sind im Kreml die Kirchen des Kathedralenplatzes, Waffenkammer mit unglaublichen Pretiosen.

 

Das Neu-Jungfrauen Kloster

Doch auch andere Kleinodien hält Moskau bereit. Als ein solches Juwel gilt mir das Neu-Jungfrauen-Kloster. Hinter einer wehrhaften roten Ziegelmauer verbirgt sich eine Oase der Ruhe. Inmitten der lärmenden Großstadt treffen wir auf eine anmutig verwilderte Gartenanlage von fast stiller Weltabgeschiedenheit. Alte Mütterchen ruhen auf Parkbänken, behäbige Katzen räkeln sich auf sonnebeschienenen Wegen, die Abendsonne taucht kleine Blumenrabatten in flammende Orange- und Rottöne und überstrahlt die rot-weiße Kirchenfassade. Welch ein Gegensatz zum eben besichtigten Kreml. Dort pompös-repräsentative Bauten und Plätze als Sinnbild geistlicher und weltlicher Macht, "tote" Kirchen,die unermeßliche klerikale Kunstschätze bergen - hier eine verwunschene Idylle der Weltabgerücktheit. Dort eilfertiges Kunstinteresse hektischer Touristen - hier stille Beschaulichkeit. Doch erst beim Betreten der Kirche taucht man in eine Zauberwelt. Der Raum ist magisch dunkel, die vielen Seitenaltäre  mit den goldüberzogenen Ikonen funkeln und glitzern jedoch im Kerzenlicht. Vor jeder Heiligenfigur brennen Kerzen, die Gläubige angezündet haben. Bis fast zum Eingang reicht die Menschenmenge: stehend haben sich hier Menschen zum Gebet versammelt, sich immer wieder bekreuzigend und tiefe ehrfurchtsvolle Verbeugungen durchführend, verfolgen sie den Gottesdienst. Im Altarbereich steht ein Chor, der mit feierlichen rhythmischen Gesängen die Rituale des Popen begleitet und unterbricht. Ein ganzheitlicher Eindruck, der einen religiösen Schauer auslöst. Die Augen können sich kaum abwenden von den erstrahlten, von flackerndem Kerzenlicht umgebenen Ikonen. Die Ohren nehmen die tragenden Gesänge auf und die Seele beginnt mitzuschwingen.         

Hier glaubt man den tiefen Wunsch eines Volkes zu spüren nach Religion , ein Wunsch, der so viele Jahre durch das kommunistische Regime niedergehalten wurde. Erst seit Perestroika werden die Kirchen wieder geöffnet und renoviert, finden Gottesdienste statt. Sicher sind die meisten Menschen hier alte, denen es kurz vor ihrem Lebensende wieder erlaubt wurde, Trost und Kraft in der Hinwendung zu Gott zu finden.

Diese kindliche Suche nach dem Sinn des Lebens bevor es zur Neige geht, rührt mich fast zu Tränen. Nur sehr widerwillig reagiere ich auf den Wink der anderen und löse mich aus dieser religiös-magischen Welt.

Ungeduldig warten die anderen bereits vor dem Kirchenportal: sie streben bereits dem nahegelegenen Restaurant zu, das für heute Abend vorgesehen ist. Wir umwandern den dem Kloster vorgelagerten See und bald sitzen wir im wohl besten georgischen Restaurant der Stadt: dem Pirosmani. Über den See hinweg blickt man auf das Neu-Jungfrauenkloster, das zu später Stunde angestrahlt wird. Und selbst auf diese Weise ist die zauberische Magie dieses Ortes noch spürbar und umhüllt den Abend mit einer seltsamen Stimmung.  

Nicht ergehen möchte ich mich in einer Aufzählung von touristischen Highligths der üblichen Art. So möchte ich unsere weiteren Erlebnisse nur kurz anstrahlen und so für meine Erinnerungen aufbewahren:

 

Ismailowsky-Park

Der bunte Trubel im Ismailowsky Park, dem Trödelmarkt Moskaus, gleicht eher  einer Freiluftgalerie. Sehenswerte russische Volkskunst, allem voran die bekannten Matrjoschkas, der Puppe in der Puppe, reich bemalte Holzeier, Handarbeiten, Kunstbücher, Ikonenstände, avantgardistische Kunst, verkitschte Kleinkunst und sonstiger Krempel sind in einem faszinierendem Reigen vereint. Angesichts des verlockenden Umtauschkurses fällt es schwer, nicht einem Kaufrausch zu verfallen. Trotzdem  sammeln sich an: Kunstbücher, Ikone, Batikbild, bis hin zu unserem riesigen modernen Ölbild, bemalte Eier... Ein Platzregen beendet diese Raffgier, und läßt uns mit diesen Schätzen im wahrsten Sinne des Wortes im Regen stehen. Wir finden Unterschlupf unter den russischen Regenschirmen zweier Händler, die sich sogar fast darum streiten, wer der Touristin Unterschlupf gewähren darf. Unfähig, diesen Warenberg per Metro zu transportieren, leisten wir uns als Krönung sogar eine Taxifahrt zurück ins Hotel.

So viele erzählenswerte Erlebnisse könnten noch zu kleinen Geschichten ausgebaut werden; doch inzwischen liegt unsere Rußlandreise fast ein Jahr zurück und somit muß Schluß sein mit detaillierten Erinnerungen.

Sei die kurze Cafepause im Hotel Metropol, diesem einzigartigen Jugendstiljuwel, das fürstliche Abendessen im Aragwi, dem teuersten Restaurant der Stadt -das nur der russischen Nomenklatura vorbehalten ist- der Bummel über den zu einem verkitschten Souveniermarkt verkommenen Arbat, ein Stadtspaziergang durch die Historie der Stadt, wo dir prunkvoll verfallene Fassaden vom früheren Reichtum und Charme erzählen, das Menü auf dem Fernsehturm Ostankino, das aus 5 Variationen von Ragout fin bestand, die beschauliche Ruhe der Patriarchenteiche und immer wieder die verzweifelte Suche nach Cafes - viele Perlen der Erinnerung.

Doch all das gehört der Vergangenheit an und kann durch noch so detaillierte Erzählungen nicht mehr zum Leben erweckt werden.

Tief jedoch sitzt noch die Erinnerung an den Kulturschock bei unserer Rückkehr. Das traditionelle Volksfest war noch im Gange und mußte obligatorisch gleich besucht werde. Dieses überquellende Angebot an Waren, diese aus Konsum gespeiste übervolle Sattheit und Selbstzufriedenheit und doch bei all dieser erfüllten Begehrlichkeit die Leere und Gehetztheit der Menschen. Der wahnwitzige Konsumtanz, der nicht einmal echte Heiterkeit und  gelassene Zufriedenheit hervorbringen konnte - was war er wert? Starr und verkrampft schienen mir die Menschen zu konsumieren, wie Zwangshandlungen vollzogen sie die angebotenen Vergnügungen. Es dauerte einige Zeit, bis sich diese Gedanken verflüchtigten und der daraus resultierende Widerwille sich legte. Doch die Wohlstandsgesellschaft zerstreut bald wieder die Bedenken. Zurück bleibt jedoch mit Sicherheit eine größere Nachdenklichkeit und Reserviertheit. Und die bisdahin schon immer angezweifelte Lebensformel: viel Konsum ist viel Lebensglück verschwindet für immer in der Mottenkiste.

Die seither erfolgten politischen Veränderungen in der ehemaligen Sowjetunion haben wir intensiver mitverfolgt. Unser Aufenthalt dort ließ uns die Geschehnisse unmittelbarer und betroffener erleben. So haben wir mitgelitten und mitgehofft, als der Putsch nur zwei Tage nach unserer Rückkehr in Moskau ausbrach. Beim Aufmarsch der Panzer zitterten wir um Freunde und Bekannte. Viele Zeitberichte konnten wir durch eigene Erfahrungen bestätigen und ergänzen. Briefkontakte sorgen weiterhin dafür, daß das Band nach Rußland nicht abreißt. Es bleibt zurück eine tiefe Liebe zu diesen Menschen, doch festigt sich gleichzeitig eine wachsende Resignation. Der so greifbar nahe scheinende Aufbruch in die Marktwirtschaft und die Demokratie verschiebt sich in eine utopische Zukunft. Kriminelle und politische Verfilzungen sorgen eher für Chaos und Anarchie. "Je schlimmer, desto besser" scheint das Motto mancher Gruppen zu sein, die das egoistische Spiel mit der Macht betreiben. Eine langsame Trockenlegung dieses politischen und wirtschaftlichen Sumpfes scheint mir inzwischen undenkbar, das alte System muß radikal eingerissen werden. Die Auflösung der UdSSR, die Entstehung der GUS und vor allem die nationalen Erhebungen und Querelen der Republiken scheinen mir nicht mehr die zu ertragenden Wehen bei der Geburt eines neuen Systems zu sein, sondern sind Versuche, alte Privilegien bestimmter Gruppen zu erhalten und in eine "neue" Zeit hinüberzuretten. Das russische Volk wird noch über lange Zeit weiterhin ausgesaugt und ausgebeutet werden von einer gierigen, menschenverachtenden Polit­krake.            

 

© Andrea Kampf 1991